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„Groß angelegtes menschliches Experiment“: So läufts in Deutschlands erster inklusiver Kletterhalle

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Von: Nicolas Bettinger

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Natascha Haug und Franziska Sanftl präsentieren die inklusive Kletterhalle in Bad Aibling, die seit wenigen Wochen geöffnet hat.
Natascha Haug und Franziska Sanftl präsentieren die inklusive Kletterhalle in Bad Aibling, die seit wenigen Wochen geöffnet hat. © Bettinger/Fotomontage

Trotz Bauproblemen und Preisexplosionen konnte die inklusive Kletterhalle in Bad Aibling vor wenigen Wochen ihren Betrieb aufnehmen. Doch noch ist nicht alles fertig. Was den Alltag so besonders macht und warum Klettern auch noch ohne Heizung funktioniert.

Bad Aibling – „Wir gehen offen damit um, dass noch nicht alles fertig ist“, sagt Franziska Sanftl vom Verein „Stützpunkt Inntal“. Zusammen mit der Vorsitzenden Natascha Haug steht sie im Eingangsbereich der neuen inklusiven Kletterhalle im Bad Aiblinger Sportpark, die vor wenigen Wochen ihren Betrieb aufgenommen hat. Der deutschlandweit ersten Einrichtung dieser Art fehlt zwar noch an der ein oder anderen Stelle der letzte Feinschliff. Dass parallel zum Betrieb noch einige Bauarbeiter im Gebäude unterwegs sind, kann die Freude darüber, dass es endlich losgegangen ist, jedoch nicht trüben.

„Natürlich liegt eine sehr kräftezehrende Zeit hinter uns“, erklärt Haug, wohlwissend, dass auch die kommenden Wochen nicht weniger anstrengend werden. „Während der Bauzeit waren wir um 19 Uhr daheim, weil dann die Baustelle dicht war“, sagt sie und ergänzt: „Jetzt sind wir halt um 23 Uhr daheim.“ Denn wenn die letzten Kletterer die Halle bis 22 Uhr verlassen, ist für das Team oft noch nicht Feierabend. Zu viel ist im neuen Betrieb noch zu erledigen, was während der normalen Öffnungszeiten gar nicht umzusetzen wäre.

Preisexplosionen und Bauverzögerungen bremsten die Planer aus

Besonders herausfordernd waren die vergangenen Monate auch deshalb, weil Preisexplosionen und die angespannte Lage im Bausektor den Planern das Leben schwer machten. Verzögerungen führten dazu, dass auch jetzt noch einige Wände unverputzt sind, Teile der Halle nicht beheizt werden oder Büro- und Yogaräume einfach noch nicht fertig gestellt werden konnten.

Aber, und das ist wohl das Entscheidendste, die Kletterhalle ist in Betrieb und wird, so Franziska Sanftl, bisher gut angenommen. „Natürlich dürfen gerne auch noch mehr kommen, aber unser Angebot spricht sich rum und die Leute fühlen sich wohl.“ So kämen Besucher nicht nur aus dem direkten Umfeld, sondern würden teils anderthalb Stunden Fahrtzeit in Kauf nehmen, um sich vom besondere Angebot in Bad Aibling ein Bild zu machen. An einem besonders gutbesuchten Tag stehen dann schon mal fast 200 Kletterbegeisterte zu Buche.

„Groß angelegtes menschliches Experiment“

Und was macht das Angebot in der Kletter- und Boulderhalle so besonders? Natascha Haug spricht liebevoll von einem „groß angelegten menschlichen Experiment“, welches man derzeit durchlebe. Die Kletterhalle steht allen Interessierten offen – Menschen mit und ohne Behinderung, Anfängern und Leuten, die schon lange klettern.

Die Wände einer Umkleidekabine zeigen, dass seit Eröffnung noch nicht alles fertig ist. Der betrieb funktioniert jedoch trotzdem.
Die Wände einer Umkleidekabine zeigen, dass seit Eröffnung noch nicht alles fertig ist. Der Betrieb funktioniert jedoch trotzdem. © Bettinger

„Da das Thema Inklusion und Teilhabe in der Gesellschaft oft ein Problem ist, hat unser Projekt hier eine wichtige Aufgabe“, betont Haug. Die Kletterhalle schaffe einen Ort, an dem sich verschiedene Lebenswelten treffen. In inklusiven Schnupperkursen etwa vollzögen die Teilnehmer echte Lernprozesse. Was bei Kindern oftmals kein Thema sei, brauche bei Erwachsenen etwas länger. „Da findet sich dann ein Teilnehmer in einer Gruppe wieder, in der auch jemand mit einer Spastik, einer Sprachstörung und einer geistigen Behinderung mitmacht, der aber ebenso greifen und sich verständigen kann“, erklärt Haug. Das mitzuerleben, sei ein spannender Prozess.

Auch das Team lebt von Inklusion

Ebenso mache das Aiblinger Team Erfahrungen mit Teilnehmern, die aus erlernter Angst ihre Behinderung verschweigen. „Bei uns sollen sie aber lernen, dass das gerade nicht nötig ist, dass wirklich jeder teilhaben darf“, so Haug. Und das wiederum helfe auch Menschen ohne Behinderung, die sich in anderen Hallen womöglich aufgrund ihres Gewichtes oder ihres Alters nicht getraut hatten, klettern zu gehen.

Unterm Strich, beteuern die Verantwortlichen, herrsche in der gesamten Halle eine entspannte Atmosphäre. Und das liegt nicht nur am möglichst bunt gemischten Publikum. Auch das 24-köpfige Team – zu dem Vollzeit-, Teilzeitkräfte und Minijobber gehören – lebe den Inklusionsgedanken. So zählen zu den Beschäftigten auch Menschen mit geistiger Behinderung, Lern-, oder Hörbehinderung. Ein Mitarbeiter lebe zudem mit einer Stoffwechselerkrankung.

Eine Gruppe probiert sich in der neuen Kletterhalle aus.
Eine Gruppe probiert sich in der neuen Kletterhalle aus. © Julia Sanft

Einer der Mitarbeiter ist Tobias Mettke. Der 19-Jährige hat eine Seh- und Lernbehinderung und arbeitet mit sichtlich Spaß in der Küche. „Ich freue mich darauf, wenn es hier losgeht“, hatte er noch kurz vor der Eröffnung gesagt. Schon jetzt mache er seinen Job „sensationell“, lobt Vorsitzende Natascha Haug nun. „Die Küche befindet sich gerade in Testwochen. Tobi ist sehr mutig und probiert derzeit Kaspressknödel, Lasagne, Ofengemüse und Kuchen aus.“

Besucher zeigen Verständnis: „Cool, dass man offen damit umgeht“

„Uns gefällt es hier sehr gut, der Service ist super und ich finde es cool, dass man so offen damit umgeht, dass halt noch nicht alles fertig ist“, sagt ein junger Mann, der sich an diesem Nachmittag in der Boulderhalle austobt. „Eigentlich ist das Thema Inklusion egal, das sollte selbstverständlich sein und Kletterer sind sowieso eine offene Gemeinschaft“, betont ein anderer ebenso begeisterter Besucher.

„Wir bekommen so viel positives Feedback und erleben viel Verständnis für die Situation“, erzählt Franziska Sanftl. Man habe ganz bewusst eine offene Kommunikation gewählt. „Es macht ja keinen Sinn, wenn die Menschen herkommen und dann enttäuscht sind.“ Außerdem würden die Besucher für das Dulden der ein oder anderen unfertigen Stelle auch mit einem Gratisgetränk belohnt. Und dass man es trotzdem nie allen Recht machen kann, liege in der Natur der Sache.

So müssten sich etwa einige Besucher erst daran gewöhnen, dass Kinder unter fünf Jahren nicht am Kletterbetrieb teilnehmen dürfen. „Uns geht es da um die Sicherheit und wir bieten stattdessen auch Kinderbetreuung an“, erklärt Haug. Nicht alle Eltern zeigten hierfür Verständnis und verwechselten Inklusion mit der Tatsache, dass jeder alles dürfe. Doch auch in der inklusiven Kletterhalle gebe es Regeln. Positive Rückmeldungen der Gäste überwiegen jedoch klar, betont Sanftl.

Bürgermeister Schlier an der Kletterwand

Welches Alleinstellungsmerkmal das Angebot der Kletterhalle für die ganze Stadt Bad Aibling bedeute, machte kürzlich auch Bürgermeister Stephan Schlier am Rande einer Spendenübergabe deutlich. Er lobte die Vorbildfunktion des Projekts: „Die inklusive Kletterhalle wird zeigen, dass Sport die Menschen zusammenbringt, egal ob mit oder ohne Behinderung. Ich freue mich, dass das Basislager nun eröffnet werden konnte“, so Schlier, der anlässlich der Eröffnung bereits selbst die erste Kletterwand getestet und erklommen hatte.

Bad Aiblings Bürgermeister Stephan Schlier testet die Kletter- und Boulderhalle.
Bad Aiblings Bürgermeister Stephan Schlier testet die Kletter- und Boulderhalle. © re

Klar ist: Das über Jahre vorbereitete Projekt, das zwischenzeitlich mit dem Bayerischen Innovationspreis Ehrenamt ausgezeichnet wurde, und das auch durch zahlreiche Spenden und Förderungen – alleine über 300.000 Euro vom Freistaat Bayern – mitfinanziert wurde, hat den lang ersehnten Betrieb erfolgreich aufgenommen. „Dabei helfen uns natürlich vor allem auch die regionalen Firmen“, so Haug. Den Besuchern stehen nun 1700 Quadratmeter Kletterwand zur Verfügung in einer 17 Meter hohen Haupthalle sowie einer zehn Meter hohen Übungshalle. Die Energiegewinnung für die Kletterhalle erfolgt nachhaltig über Bauteilaktivierung – eine Solaranlage mit Wasserspeicher und einer zusätzlichen Luftwärmepumpe.

Geöffnet hat die Halle montags, mittwochs und freitags von 11 bis 22 Uhr; dienstags und donnerstags von 7 bis 22 Uhr; samstags, sonntags und an Feiertagen von 9 bis 22 Uhr.

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