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Todesschüsse: "Sie jagten ihn wie ein Tier"

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Von: Bettina Pohl, Patrick Steinke

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Vor dem Grab von Andre vermischen sich Wut und Trauer der Angehörigen und Freunde über die missglückte Polizei-Aktion (von links nach rechts: Lilia B., Edik H., Alex B., Karolina S.) © ps

Burghausen - Drei Monate sind vergangen, seit Andre B. von einer Polizeikugel tödlich getroffen wurde. Einsicht in die Polizeiakten macht die Fassungslosigkeit bei Familie und Freunden noch größer:

Drei Monate sind vergangen, seit die tödlichen Schüsse eines Mühldorfer Zivilfahnders dem 33-jährigen Andre B. das Leben nahmen. Nicht nur die Anwohner der Wohnanlage in der Herderstraße, in der sich die Tragödie ereignete, erheben schwere Vorwürfe gegen die Polizei. Auch die Angehörigen und die Freundin des Erschossenen sind fassungslos darüber, wie Andre aus ihrem Leben gerissen wurde. Sie pochen auf Gerechtigkeit. Zu viel soll ihrer Meinung nach von Seiten der Polizei verschwiegen worden sein, um den Zivilfahnder zu schützen.

Die tödliche Festnahme

Andre B. wurde per Haftbefehl - ausgestellt am 1. März - von der Polizei gesucht. Ihm wurde der mehrfache Handel mit größeren Mengen Marihuana vorgeworfen, es soll Verdunklungsgefahr bestanden haben. Dass er polizeilich gesucht wird, wusste der 33-Jährige. Seine Freundin Karolina S. erzählte innsalzach24.de, dass sie einen Abend vor der missglückten Festnahme noch mit ihm gemeinsam von dem Haftbefehl erfahren habe. In dem Schreiben wird Andre als "Angehöriger der Rauschgiftszene" angesprochen. Zudem sei durch konspiratives Verhalten ein unlauteres Einwirken auf Beteiligte zu befürchten.

Monate nach der Ausstellung des Haftbefehls, am 25. Juli, trafen ihn die zwei Zivilfahnder vor der Wohnung seiner Freundin Karolina S. in Burghausen an. Die Beamten waren für den Abend eigentlich zur Stadionsicherheit bei einem Spiel des SV Wacker eingetragen.

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Andre und seine Mutter kamen 1992 von Russland nach Deutschland (zum Vergrößern auf das Bild klicken). © Karolina S.

Die Festnahme von Andre, der 1992 mit seiner Mutter von Krasnodar (Russland) nach Deutschland kam, missglückte. Eine Kugel traf den 33-Jährigen im Nacken und tötete ihn. Der genaue Ablauf war lange unklar. Durch Einsicht in die Polizeiakten wurden die Abläufe des 25. Juli für Familie und Freunde durchsichtiger. Der Zivilfahnder, aus dessen Pistole die Todesschüsse abgegeben wurden, soll seine Waffe bereits beim ersten Blickkontakt mit dem 33-Jährigen gezogen und die Pistole auf den Boden gerichtet haben. Ein 15-jähriger Junge, der in dem Wohnblock in der Herderstraße wohnt und polizeilich vernommen wurde, ist sich außerdem sicher: Es verging kaum Zeit zwischen dem Warn- und Todesschuss. Der 15-Jährige soll zudem nicht das einzige Kind gewesen sein, das sich um kurz vor 18 Uhr vor den Häusern aufhielt. Insgesamt sollen fünf Kinder auf der angrenzenden Wiese Fußball gespielt oder bei den Hauseingängen gesessen haben.

Der 35-jährige Schütze gab zu Protokoll, dass er die unbeteiligten Personen wahrgenommen hätte - zwischen ihm und dem Flüchtenden seien jedoch keine Dritten gewesen. Abgesehen von seinem Kollegen, der links vor ihm gelaufen sein soll. Der zweite Zivilfahnder soll Angst gehabt haben, selbst getroffen worden zu sein und überprüfte nach dem zweiten, tödlichen Schuss zuerst seinen eigenen Oberkörper auf Einschüsse. Nach Angaben des Beamten soll der Schütze aus einer Entfernung von rund fünf bis acht Metern geschossen haben.

"Sie jagten ihn wie ein Tier!"

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Der letzte Kontakt zwischen Lilia B. und ihrem Sohn Andre fand einen Tag vor seinem Tod statt. Der 33-Jährige bedankt sich bei seiner Mutter für das Essen, das sie ihm mitgab (Zum Vergrößern auf das Bild klicken). © bp

"Mama, danke für das Essen" sind die letzten Worte, die die 53-jährige Lilia B. von ihrem Sohn Andre in einer SMS bekam. Einen Tag später war ihr einziges Kind tot. Sie kann den Verlust nur schwer in Worte fassen, der Schmerz sitzt noch zu tief. Sie hat sich einen Anwalt genommen, möchte in einem angestrebten Prozess gegen den Todesschützen als Nebenklägerin auftreten. Für sie steht fest: "Dieser Polizist hat eine gerechte Strafe verdient. Unsereins kann auch nicht rumlaufen und Menschen erschießen." 

Als ihr Bruder sie über den Tod ihres Sohnes informierte, machte sie sich sofort auf den Weg zum Tatort. Begreifen kann sie all das nicht. Unzählige Akten hat sie seit dem 25. Juli gewälzt und immer wieder kommt sie zu dem Resultat: "Sie haben Andre gejagt wie ein Tier."

Seit etwa einem Jahr war ihr lebensfroher Sohn, der vor Freunden immer gerne den Entertainer gab, wieder auf freiem Fuß. Zuvor hatte er eine Haftstrafe von vier Jahren und sechs Monaten wegen Drogenhandels abgesessen. Während seiner Haft absolvierte er eine Ausbildung zum Buchbinder - die Briefe, die er von seiner Mutter erhielt, hat er ihr in einem Buch gebunden und geschenkt. Er lebte im gleichen Haus wie Lilia B., hatte dort eine eigene Wohnung. "Ich habe nie irgendwas von Drogen mitbekommen", behauptet sie. "Er wollte nichts mehr mit den Drogen zutun haben", attestieren ihm auch sein Cousin Alex B. und seine Freunde.

Philipp B., der jahrelang zum Freundeskreis des Erschossenen gehörte, ist fassungslos: "Für mich ist es nicht greifbar, dass ein Mensch, der dabei war, seine Dinge gerade zu biegen, erschossen wird. Er wird wie der "Drogenking" schlechthin dargestellt und hat aufgrund eines Verdachts und eines überforderten Beamten sein Leben lassen müssen."

Zur Obduktion des 33-Jährigen gehörte auch ein Drogentest: Er fiel auf alle getesteten Substanzen negativ aus.

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Seit dem 1. Januar 2013 waren Andre und Carolin ein Paar. Zwei Tage nach der tödlichen Verhaftung hätten sie erste Besichtigungstermine gehabt (zum Vergrößern auf das Bild klicken). © Karolina S.

Seit dem Neujahrstag 2013 war Andre mit Karolina zusammen. Er lernte die 20-jährige Auszubildende als Freigänger kennen. Der Schock über den plötzlichen Verlust des Partners sitzt auch bei ihr sehr tief. "Wir wollten uns eine gemeinsame Zukunft aufbauen. Zwei Tage nach der tödlichen Festnahme hätten wir die ersten Wohnungsbesichtigungen gehabt." Verstehen kann sie auch nicht, wieso sie in das Visier der Ermittler gerückt ist und sogar ihre alte Arbeitsstätte überwacht wurde.

Doch innerhalb eines Augenblicks wurden alle Zukunftspläne auf einen Schlag zerstört. Als sie in ihrem Badezimmer die Schüsse hört, blickt Karolina sofort aus dem Fenster und erkennt, dass die am Boden liegende Person die Schuhe ihres Freundes trägt. "Dann bin ich nur noch gelaufen! Ich wollte zu ihm, wollte ihm helfen - ich konnte aber gar nichts machen." Jetzt hat sie nur noch einen Wunsch: "Ich möchte, dass der Mann (Anmerkung der Redaktion: der Zivilfahnder, der die tödlichen Schüsse auf Andre B. abfeuerte) eingesperrt wird. Er hätte schon ab dem ersten Tag weggesperrt gehört!"

Das sagen die Behörden zum Fall Andre B.

Der Zivilfahnder wurde bereits fünf Tage nach den tödlichen Schüssen suspendiert. Mittlerweile hat das Bayerische Landeskriminalamt, das als unabhängige Behörde die Untersuchungen leitete, die Ermittlungen abgeschlossen.

Auf Nachfrage von innsalzach24.de zu der missglückten Festnahme verwies der Leiter der dortigen Pressestelle, Karl-Heinz-Segerer, auf die Staatsanwaltschaft Traunstein. Wie uns Sprecher Björn Pfeifer dort bestätigte, liegen die Berichte nun der Staatsanwaltschaft vor und würden geprüft. Zum aktuellen Stand des Verfahrens konnte er sich jedoch nicht äußern.

Aus unserem Archiv:

Augenzeuge beschreibt den tödlichen Schuss:

Mahnwache in Burghausen:

Demonstration gegen Polizeigewalt: 

Trauerbekundung für André B.:

Bilder vom Tatort: 

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