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Kunstgelenke für 75-jährige Patienten

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Mit 95 Jahren ist Lisa Scherrer so agil wie andere mit 70 und versorgt sich sogar noch selbst. Ohne das künstliche Kniegelenk, das ihr Dr. Ludwig Seebauer trotz ihres Alters eingesetzt hat, wäre sie heute ein Pflegefall.
Mit 95 Jahren ist Lisa Scherrer so agil wie andere mit 70 und versorgt sich sogar noch selbst. Ohne das künstliche Kniegelenk, das ihr Dr. Ludwig Seebauer trotz ihres Alters eingesetzt hat, wäre sie heute ein Pflegefall. © Markus Schlaf

Kunstgelenke für sehr alte Patienten: Lohnt sich das oder füllt es nur die Kassen der Ärzte und belastet das Gesundheitssystem? Orthopäde Dr. Ludwig Seebauer findet: Mobilität im Alter ist kein Luxus, sondern medizinische Notwendigkeit.

Lisa Scherrer setzt sich auf die Liege im Arztzimmer. Dann schwingt die 95-Jährige flink die Beine hinauf und schiebt das linke Hosenbein nach oben. Hilfe braucht sie dafür nicht. „Wenn es nicht überall so fürchterlich knacken und knirschen würde“, sagt sie. Schuld sind die Gelenke, die mit den Jahren verschlissen sind – so wie bis vor Kurzem auch das linke Knie.

Darin knirscht heute nichts mehr. Statt zerstörtem Knochen steckt in Lisa Scherrers linkem Knie ein Implantat aus Titan. Es ist fest einzementiert und mit einem Scharnier versehen, damit sich nichts verhakt. Der Bandapparat sei völlig ausgeleiert gewesen, erklärt Dr. Ludwig Seebauer, Chefarzt der Orthopädie am Klinikum Bogenhausen. Daher fiel die Wahl auf eine achsgekoppelte Endoprothese.

Heute, drei Monate nach der Operation, ist nur noch eine lange rote Narbe zu sehen. Die Wunde ist gut verheilt, das Gelenk lässt sich leicht abbiegen. Der Operateur, Oberarzt Dr. Klaus Schiller, hat gute Arbeit geleistet. Seebauer ist zufrieden. „Perfekt“, sagt er – und das findet auch Lisa Scherrer, die schon wieder gut zu Fuß ist.

Vor einem halben Jahr war das anders. Kurz nach ihrem Geburtstag im April hatten heftige Schmerzen im Knie begonnen. Verschlissen war das Gelenk schon länger. Wegen der lockeren Bänder wurde es nun so instabil, dass es nach innen kippte. Ein starkes X-Bein war die Folge, bald wurde jeder Schritt zur Qual. „Ich kam kaum noch aus dem Bett“, erzählt Lisa Scherrer. Dabei hatte sie sich bis dahin noch selbst versorgt. Kochen und einkaufen – das ging jetzt nicht mehr. Und schuld daran war allein das Knie.

„Unsere Gelenke sind entwicklungsgeschichtlich für ein Alter von etwa 65 bis 75 Jahren ausgelegt“, sagt Seebauer. Mit den Jahren nutzt sich die schützende Knorpelschicht ab, Arthrose ist die Folge. Reibt Knochen auf Knochen, wird es langsam zerstört. Es schmerzt und entzündet sich. Dann hilft oft nur ein Kunstgelenk – und so eines sollte man auch älteren Patienten einsetzen, findet Seebauer. Vorausgesetzt, sie waren bis dahin noch mobil.

Nicht mehr gehen zu können, hat weitreichende Folge – gerade für Ältere: Solange sie sich gut bewegen können, trainieren sie damit Herz und Kreislauf und beugen Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes vor. Es verbessert auch die Prognose, wenn Patienten bereits herz- oder zuckerkrank sind. Beweglich zu sein, erhält auch Muskelkraft und Stabilität der Knochen. Das Gleichgewicht wird trainiert, die Sturzgefahr sinkt.

„Ohne Bewegung rostet aber auch der Geist“, sagt Seebauer. Das werde oft unterschätzt. Denn Bewegungsabläufe zu koordinieren, fordert das Gehirn. Körperliche Aktivität hilft daher, die geistige Leistungsfähigkeit länger zu erhalten – und ist sogar effektiver als Gehirnjogging, wie Studien gezeigt haben. In einer Arbeit untersuchte man etwa die geistige Leistungsfähigkeit 75- bis 80-Jähriger. Ein Teil der Teilnehmer sollte eine halbe Stunde pro Tag körperlich aktiv sein. Die anderen hielten den Geist mit Gedächtnistraining fit. Das Ergebnis: Die geistigen Fähigkeiten der körperlich Aktiven seien nach einem Jahr „deutlich besser“ gewesen, sagt Seebauer. „Man muss dem Geist Beine machen.“ So habe es ein Kollege mal auf den Punkt gebracht. Auch soziale Kontakte halten das Gehirn frisch: Der Verlust der Mobilität aber führt oft zu Rückzug.

Verlieren ältere Menschen ihre Beweglichkeit, setze eine Abwärtsspirale ein, sagt Seebauer. Dann kommt eins zum anderen: Muskelabbau und unsicherer Gang erhöhen das Risiko zu stürzen – und schwache Knochen brechen leicht. Betroffene büßen dann weiter an Mobilität ein und Herz-Kreislauf-Erkrankungen verschlimmern sich.

Auch Lisa Scherrer konnte sich nicht mehr selbst helfen. „Entweder muss eine Pflegekraft zu mir kommen, oder ich muss ins Heim“, sagte sie zu ihrer Tochter. Sie wollte niemandem zur Last fallen. „Sie ist richtig depressiv geworden“, sagt ihr Sohn. Zumal der Geist der 95-Jährigen jung ist. E-Mail-Adresse und Telefon? Hat sie im Kopf. „Ich gebe Ihnen gern auch meine Handy-Nummer“, fügt sie gut gelaunt hinzu.

Denn mit der Mobilität ist auch ihre Lebensfreude zurückgekehrt. „Ich bin gerade noch so am Pflegefall vorbeigeschlittert“, sagt sie. Auch ein Grund, warum Seebauer sich gegen den Vorwurf wehrt, ein Gelenksersatz in höherem Alter sei Luxus. OP, Klinikaufenthalt, Reha: Etwa 12.000 Euro müsse man in etwa rechnen. Doch die Pflege eines Demenzkranken koste etwa 50.000 Euro – pro Jahr.

Zunächst sah es so aus, als sei eine Operation nicht möglich. Auch Lisa Scherrers Herz ist nicht gesund. „Das ist inoperabel“, befand daher einer ihrer Söhne, selbst Internist. Nach eingehender Prüfung und vielen Diskussionen mit den Kardiologen im Klinikum Bogenhausen, erfuhr Lisa Scherrer schließlich: Es geht doch, aber nicht ohne großes Risiko. Sie entschied sich dennoch für die Operation. „Was wäre die Alternative gewesen?“, sagt sie.

Sie ist nicht die Einzige, bei der eine Vorerkrankung den Eingriff erschwert – und mit dem Anteil älterer Patienten, steigt ihre Zahl. Bereits heute sind etwa 40 Prozent der Patienten über 75 Jahre alt. „Sie haben immer öfter Vorerkrankungen“, sagt Seebauer. Die meisten können dennoch operiert werden – zumal Narkosen heute verträglicher und die Operationen kürzer sind. Dass immer mehr Ältere einen Gelenkersatz erhalten, sei daher auch eine Folge des medizinischen Fortschritts, sagt Seebauer. Er rät Patienten mit Vorerkrankungen, sich in einer Klinik der Maximalversorgung operieren zu lassen: Bei Komplikationen sind Spezialisten aller Fachrichtungen zur Stelle. Sie werden auch davor schon zu Rate gezogen.

Bei Lisa Scherrer lief alles glatt. Zur Sicherheit behielt man sie drei Tage auf der Intensivstation. Schon dort begann man mit ersten Bewegungsübungen – bei älteren Patienten besonders wichtig. Zehn Tage nach dem Eingriff ging es zur Reha. Dort wechselte sie bald vom Rollstuhl zu Krücken. So eine steht auch jetzt in der Ecke. „Brauchen Sie die überhaupt noch?“, fragt Seebauer. Lisa Scherrer winkt ab: Nur dann, wenn sie beim Gehen ein wenig Anlaufschwierigkeiten habe.

Von Andrea Eppner

Leserfragen an die Experten: wissenschaft@merkur-online.de

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