Das Trilemma der EZB – und wie ihr die Inflationsbekämpfung gelingen könnte

Die EZB steht angesichts der stark steigenden Inflation vor gewaltigen Aufgaben. Die nächste Sitzung am 21. Juli dürfte eine der spannendsten und wichtigsten in der EZB-Geschichte werden, schreibt Allianz-Chefvolkswirt Ludovic Subran im Gastbeitrag. Was die Notenbank jetzt tun sollte.
München – Zentralbanken sind der Preisstabilität verpflichtet. Dieses oberste Ziel steht dabei jedoch in einem Spannungsverhältnis zu ihren Nebenzielen, ohne deren Gewährleistung die Zentralbank kaum ihre Aufgabe erfüllen könnte: Bewahrung der eigenen Unabhängigkeit und Sicherung der Finanzmarktstabilität. Damit ist das Trilemma der Geldpolitik beschrieben (siehe Schaubild).

Je nach Inflationsregime verschieben sich dabei die Herausforderungen. In deflationären Zeiten, in denen die Geldpolitik zu unkonventionellen Mitteln wie den Kauf von Staatsanleihen greifen muss, um ihr Geldwertziel zu erreichen, gerät die eigene Unabhängigkeit in Gefahr.
EZB und die Gefahr der fiskalischen Dominanz
In dem Maße, in dem die Zentralbank zum größten Gläubiger der Staaten aufsteigt, wird sie nolens volens gezwungen, die Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf die Staatsfinanzen mitzudenken. Dies wird mit dem Begriff der „fiskalischen Dominanz“ ausgedrückt: Die Furcht vor (unbeabsichtigten) Folgen für den Fiskus lähmt die Geldpolitik. In inflationären Zeiten dagegen, in denen die Zentralbank die Zinsen (kräftig) erhöhen muss, drohen Risiken für die Finanzmarktstabilität.
Denn viele kreditgehebelte Geschäftsmodelle verlieren mit dem Zinsanstieg ihre Grundlage. Das Paradebeispiel dafür ist die Finanzkrise 2007/08, in der die Zinswende der amerikanischen Notenbank das Kartenhaus der verbrieften Subprime-Hauskredite zum Einsturz brachte und dadurch Schockwellen im globalen Finanzsystem auslöste.
Stimme der Ökonomen
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Drohende Fragmentierung der Eurozone durch Kapitalflucht
In der Eurozone sind diese Stabilitätsrisiken systemimmanent. Generell geht ein Zinsanstieg mit Portfolioumschichtungen einher, von risikoreicheren hin zu sicheren Anlagen. Im Kontext der Eurozone bedeutet dies: Investoren reagieren auf steigende Zinsen mit einer Umschichtung hin zu den geringer verschuldeten Ländern.
Diese „Kapitalflucht“ aus den hoch-verschuldeten Ländern führt zu einer Ausweitung der Zinsunterschiede („Spreads“), die Eurozone „fragmentiert“ sich. Die Gefahr liegt in der sich selbst verstärkenden Dynamik dieser Entwicklung: je höher die Zinsen, desto größer die Gefahr eines etwaigen Zahlungsausfalls und je stärker daher die Fluchtbewegung.
Dies war in der Eurokrise der Jahre 2011/12 zu besichtigen, als die zunehmende Fragmentierung die Eurozone auseinanderzureißen drohte – bis die Europäische Zentralbank (EZB) ein Machtwort sprach und mit dem neugeschaffenen Programm OMT (Outright Monetary Transactions) – dem Versprechen, die Staatsanleihen der betroffenen Länder in unbegrenztem Umfang aufzukaufen – ein wirksames Instrument schuf, die kontinuierliche Spreadausweitung zu stoppen.
EZB bereitet „Anti-Fragmentierungsinstrument“ vor
Bis zum vergangenen Monat war damit die Gefahr der Fragmentierung wirksam gebannt. Mit der Ankündigung der EZB, die Anleihekäufe zu beenden und die Zinsen im Juli anzuheben, kam es dann jedoch zu einem Déjà-vu auf den Finanzmärkten: Die Zinsunterschiede, insbesondere zwischen Deutschland und Italien, weiteten sich wieder kräftig aus.
Erst als die EZB nach einer Sondersitzung ankündigte, auf der nächsten regulären Sitzung ein „Anti-Fragmentierungsinstrument“ vorzustellen, quasi eine Neuauflage des OMT, beruhigten sich die Märkte wieder. Diese Sitzung in der nächsten Woche, am 21. Juli, dürfte daher eine der spannendsten und wichtigsten in der EZB-Geschichte werden.
Denn auch für diese Aufgabe gilt: leichter gesagt als getan. Es beginnt damit, dass das alte OMT-Programm tot ist. Der Kauf von Staatsanleihen unter OMT sollte nur unter strikter Konditionalität erfolgen, er war verbunden mit einem Hilfsprogramm des ESM (European Stability Mechanism). Spätestens mit der Corona-Pandemie ist dieses Junktim aber obsolet, der politische (Reform-)Willen ist erlahmt. Denn statt in der Krise auf den ESM zurückzugreifen – der durchaus über die notwendigen Mittel verfügte –, wurde mit dem Programm NGEU (Next Generation EU) ein neues Instrument aus der Taufe gehoben, das Zuschüsse anstelle von Krediten und Flexibilität anstelle harter Auflagen bietet.
Und noch eine weitere Schwierigkeit tritt hinzu: 2012 herrschte Deflationsangst, Anleihenkäufe standen prinzipiell im Einklang mit einer auf die Geldwertstabilität ausgerichteten Geldpolitik. Dies gilt heute nicht mehr. Gleich geblieben sind jedoch die Sorgen um das Mandat der EZB, also die Frage, inwieweit Staatsanleihekäufe – auch wenn sie im Rahmen der Geldpolitik erfolgen – nicht die Grenze zur (verbotenen) Staatsfinanzierung überschreiten.
Inflationsbekämpfung: EZB muss schwierigen Dreiklang meistern
Wie könnte also ein neues Instrument aussehen? Als Minimum sollte die folgenden drei Bedingungen erfüllt werden: Ambiguität, Sterilität und Legalität. Was ist damit gemeint? Die EZB sollte der Versuchung widerstehen, sich auf feste Ziele, zum Beispiel für die Spreads, festzulegen; auch über das mögliche Volumen des Programms sollte sie die Märkte im Unklaren lassen – die ansonsten geneigt sein könnten, die EZB zu „testen“, das heißt gegen eine Eindämmung der Spreads zu wetten.
Keine Mehrdeutigkeit darf sich die EZB jedoch in der Kommunikation ihres festen Willens erlauben, die Fragmentierung der Eurozone wirksam zu bekämpfen. Sterilität zielt darauf ab, die Gelder, die die EZB den Marktakteuren mit dem Kauf von Anleihen zur Verfügung stellt, wieder einzusammeln, also zu „sterilisieren“. Dies könnte durch den Verkauf anderer Anleihen geschehen, vorzugsweise von supranationalen Anleihen, um Auswirkungen auf die Zinsen einzelner Länder zu vermeiden. Und Legalität schließlich verweist auf die Notwendigkeit, dass sich die EZB an ihre eigenen Regeln wie die Obergrenze zum Halten von Staatsanleihen hält. Ansonsten droht die Gefahr, dass das neue Instrument einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten könnte.
EZB: Vorteil Lagarde
Es ist also ein schwieriger Dreiklang, den die EZB meistern muss: Die Märkte überzeugen, die Inflationsbekämpfung nicht unterlaufen und die Rechtmäßigkeit sicherstellen. Keine leichte Aufgabe, vor allem was den letzten Punkt und die zahlreichen Kritiker der früheren Maßnahmen betrifft. Im Rückblick war es deshalb wohl keine so schlechte Entscheidung, mit Christine Lagarde keine Ökonomin, sondern eine Juristin an die Spitze der EZB zu berufen. Ihr ist es zuzutrauen, das Trilemma der EZB zu lösen.
Zum Autor: Ludovic Subran ist Chef-Volkswirt der Allianz SE und von Allianz Trade/Euler Hermes. Vor seinem Eintritt in die Allianz Gruppe arbeitete er für renommierte Institutionen wie das französische Finanzministerium, die Vereinten Nationen und die Weltbank. Er unterrichtet außerdem Wirtschaftswissenschaften an der HEC Business School.